Annemarie Schimmel
Sufismus, Epilog
Qutub Mian trug das lange zimtfarbene Gewand der Tschischti-Sufis, das im sinkenden Nachmittagslicht kupfergolden schimmert, und sein Gesicht leuchtete von innen, während er uns in die Geheimnisse des ihsan, des dritten Aspektes des wahren Islam, einführte. Hatte nicht der Prophet Muhammad vom Engel Gabriel erfahren, dass es drei Stufen des Glaubens gebe, die im Koran angedeutet waren? Islam: das ist das äußere Annehmen der Religion, das sich in den Werken des Gehorsams zeigt, selbst wenn das innere Fürwahrhalten noch nicht erreicht ist; iman, der Glaube - Glaube an Gott, Seine Bücher, Seine Gesandten, den Jüngsten Tag und die Vorherbestimmung; und schließlich ihsan.
„Das Wort kommt von der arabischen Wurzel hasan, ,schön', und bedeutet" - so sagte er -, „alles so schön und gut wie möglich zu machen. Denn wenn du Gott auch nicht siehst, ist Er doch in jedem Augenblick gegenwärtig und weiß und sieht, was immer du denkst und tust. Tu deshalb alles in der schönstmöglichen Art!" So belehrte er uns in langen, melodiösen Urdu-Sätzen und schien selbst eine Verkörperung dieses letzten Grades, der, wie manche meinen, den wahren Sufi kennzeichnet.
Ich hatte Qutub Mian wenige Tage zuvor in der Jamia Nizamia getroffen, der letzten traditionellen theologischen Hochschule in Hyderabad, in der Studenten nach dem jahrhundertealten Syllabus ausgebildet werden und die eine vorzügliche Bibliothek besass. Die rund 400 Studenten, hager und großäugig, die ein schönes, aber sehr antiquiertes Arabisch sprachen, waren sicherlich nur von ihrem Glauben getragen, wenn sie sich für ein solches Studium an einer islamischen Hochschule entschlossen, da sie kaum auf eine Anstellung im säkularistischen Indien hoffen konnten - es sei denn als Prediger oder Imame. Qutub Mian, ein pensionierter hoher Finanzbeamter, war der Präsident der Medrese, in der die alten Tschischti-Ideale absoluten Gottvertrauens herrschten und in der er eine Rupie Monatsgehalt bezog. Wiederum wenige Tage später sah ich Qutub Mian bei einem Hauskonzert sufischer Musik, dem er, zusammen mit einem anderen Sufi, lauschte. Die langen und weiten Ärmel seiner Kutte bewegten sich im Takt, wie Flügel, und sein Gesicht zeigte jenen verzückten Ausdruck, den man manchmal auf mittelalterlichen Heiligenbildern sieht. Hier lebte er seinen iman, seinen tiefen Glauben an Gott und Seine Weisheit und sein Vertrauen darauf, dass Er von allen Wesen gepriesen und angebetet wird, in welcher Form das auch sei.
An jenem Spätnachmittag aber am Mausoleum des „schweigenden Meisters", dessen Nachfolger er war, erlebten wir Qutub Mian als Menschen, der das ihsan, die Verinnerlichung jeden Strebens, uns nicht nur verbal nahe brachte, sondern es durch sein ganzes Wesen leuchten liess.
Das war, so glaube ich, die Quintessenz dessen, was die Sufis durch die Jahrhunderte gesagt und, mehr noch, praktiziert hatten. 'Abdallah-i Ansari von Herat hat die Sufis vor mehr als neun Jahrhunderten beschrieben als Menschen, „die nie im Dickicht des Neides verstrickt sind, deren Gewänder der Hingabe nie vom Staub der Triebseele beschmutzt, deren Augen nie vom Rauch der Eigenliebe getrübt sind. Sie sind Könige auf dem Pfad der Armut, engelhaft in menschlicher Gestalt, und schreiten würdevoll ihres Weges ..."
Jeder meiner Sufi-Freunde zwischen San Francisco und Kuala Lumpur, in der Türkei und im Sudan, im indo-pakistanischen Subkontinent und in Usbekistan, in Kairo und in Iran verkörpert einen anderen Aspekt des Sufismus, und ich wage nicht, eine alles umfassende Formel zu finden. Ist es, wie Dr. Javad Nurbakhsh, der Leiter des Ni'matullahi-Ordens, sagt, „der Weg, Humanität zu lernen?" Oder sollten wir, wie so oft, die Antwort bei Dschalaladdin Rumi finden, der sagt:
„Was ist Sufismus? Er sprach: Freude finden im Herzen, wenn die Zeit des Kummers kommt."
Aus:
Annemarie Schimmel: Sufismus. Eine Einführung in die islamische Mystik.
Verlag C.H.Beck, München 2000 (mit freundlicher Genehmigung der Autorin)